Vernissage zur Ausstellung „100 Jahre Proporz“

Vernissage zur Ausstellung „100 Jahre Proporz“

Meine Begrüssung als Vizepräsidentin des Nationalrates an der Vernissage zur Ausstellung «100 Jahre Proporz» der Parlamentsdienste

Sehr geehrter Herr Professor Pukelsheim

Sehr geehrter Herr Ständerat

Sehr geehrter Herr Generalsekretär

Sehr geehrte Damen und Herren

Es ist mir eine grosse Ehre, die Ausstellung «100 Jahre Proporz» der Parlamentsdienste zu eröffnen. Es ist die erste umfassende Ausstellung über das Parlament und sein Wahlsystem im Parlamentsgebäude. Besonders freue ich mich, Herr Professor Pukelsheim, dass Sie aus Augsburg angereist sind und uns in der anschliessenden Gesprächsrunde sicher einiges über den nach Ihnen benannten «doppelten Pukelsheim» zu erzählen haben.

Vor hundert Jahren, am 13. Oktober 1918, schlägt die grosse Stunde des Proporzes: Mit 300’000 zu 149’000 Stimmen wird die Volksinitiative klar angenommen. Morgen jährt sich dieser Entscheid zum 100. Mal und die Parlamentsdienste eröffnen die Ausstellung mit einem Tag der offenen Tür für das Publikum.

Als Tessinerin bin ich stolz, dass das rot-blaue Wappen gleich zu Beginn der Ausstellung auf die wichtige Rolle des Proporz-Pioniers Tessin hinweist. Die Tessiner Liberalen führen das neue Wahlsystem als erste ein. Erlauben Sie mir, Ihnen den sogenannten Tessiner Putsch von 1890, der meinen Kanton tief geprägt hat, in Erinnerung zu rufen.

Nach der Besetzung des Zeughauses von Bellinzona werden verschiedene Amtsträger und Vertreter der Konservativen verhaftet. Staatsrat Luigi Rossi wird von einem Pistolenschuss tödlich getroffen. Die Aufständischen setzen eine liberale Übergangsregierung ein, an deren Spitze Rinaldo Simen stand. Sie wird im selben Jahr durch eine von Agostino Soldati geführte Regierung ersetzt, in der beide politischen Hauptgruppen vertreten sind.

Die eidgenössischen Behörden reagieren rasch und energisch. Sie entsenden den Kommissär Arnold Künzli mit dem Auftrag, die Ordnung im Kanton wieder herzustellen und Ruhe zu schaffen. 1892 wird die Proporzwahl für Regierung und Parlament eingeführt und das politische System im Tessin grundsätzlich verändert. Die wichtigsten Parteien sind nun gezwungen, Formen der Zusammenarbeit zu finden.

So wird das Tessin zu einem politischen Versuchslabor für die erstmals in der Schweiz angewandte Verhältniswahl und für das Konkordanz-System.

Auf Bundesebene dauert das Prozedere wesentlich länger. 27 Jahre und drei Volksinitiativen später finden die ersten eidgenössischen Proporzwahlen statt. Die dritte Initiative wird 1913 lanciert und kommt wegen des Weltkrieges erst 1918 vor das Volk.

Die Forderung nach dem Proporz kommt nicht nur von links. Einerseits fordert das Oltener Aktionskomitee im Rahmen des Generalstreiks eine sofortige Neuwahl des Nationalrates mit dem Proporzwahlsystem.

Andererseits sagt der junge Rudolf Minger in seiner berühmten Rede in Bern, welche den Anstoss zur Gründung der bernischen Bauernpartei gibt, folgendes: «Wir stehen am Vorabend einer neuen Zeit. Eine tiefschürfende politische Neuorientierung drängt sich auf. Der Weg ist vorgezeichnet: Proporz heisst dieser Weg. Der Proporz ist zwar von anderer Seite auf den Schild gehoben worden. Aber heute haben wir Bauern alles Interesse, uns dieser Bewegung anzuschliessen. Und dazu gibt es für uns nur eine Lösung: die Gründung einer eigenen selbstständigen Bauernpartei! Jetzt müssen die Fesseln gesprengt werden. Die politische Bevormundung muss aufhören; denn jetzt wollen wir selbst aktiv in die Politik eingreifen!»

Die ersten Wahlen nach dem Proporzverfahren führen zu tiefgreifenden Veränderungen in der Parteilandschaft. Die Sozialdemokraten können ihre Sitzzahl von 20 auf 41 verdoppeln, die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei von Rudolf Minger gewinnt auf Anhieb 25 Sitze. Die Freisinnigen, die Dominatoren des früheren Parlamentes, verlieren auf einen Schlag 40 Sitze. Historisch sind die Wahlen im Oktober 1919 auch aufgrund der hohen Wahlbeteiligung von über 80 Prozent. Ein Rekord, der bis heute Bestand hat.

Doch der Proporz ist auch heute noch im Gespräch. Im eidgenössischen Parlament gibt es immer wieder Vorstösse, um das Wahlsystem zu ändern. Das für die Nationalratswahlen gültige Berechnungsmodell des Baslers Eduard Hagenbach-Bischoff soll durch den sogenannten «doppelten Pukelsheim» ersetzt werden, der bereits in verschiedenen Kantonen angewendet wird. Obschon mathematisch präziser, finden den «doppelten Pukelsheim» nicht alle Politikerinnen und Politiker gerechter.

Zum Schluss danke ich Herrn Philippe Schwab, Generalsekretär der Bundesversammlung und seinem Projektteam der Parlamentsdienste sowie dem Basler Ausstellungsgestalter Ruedi Stutz für die informative, schön gestaltete Ausstellung mit attraktiver Staatskunde. Mögen möglichst viele Bürgerinnen und Bürger davon profitieren. Und insbesondere viele Tessinerinnen und Tessiner, deren Vorfahren für ein repräsentativeres Wahlsystem und für eine bessere Demokratie gekämpft haben.

Damit übergebe ich das Wort Herrn Philipp Burkhardt, Leiter der Bundeshausredaktion von Radio SRF, und freue mich auf die spannende Gesprächsrunde mit Herrn Professor Friedrich Pukelsheim und Herrn Ständerat Stefan Engler. Vielen Dank.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.