Die Präsentation wurde im Rahmen der Sozialfirmenkonferenz vom 10. September 2015 in Olten gehalten.
Ich möchte mich herzlich bei Ihnen für die Einladung zur Sozialfirmenkonferenz bedanken. Ich freue mich, als Nationalrätin, Gesundheits- und Sozialpolitikerin vor Ihnen über Strategien zur Armutsbekämpfung sprechen zu können. Als Hausärztin weiss ich nicht nur, wie wertvoll und gleichzeitig verletzlich die Gesundheit jedes Menschen ist. Ich sehe auch bei einigen meiner Patientinnen und Patienten, wie belastend Armut sein kann. Nach einer kurzen Einführung zum Thema Armut in der Schweiz möchte ich auf drei einzelne Aspekte der Armutsbekämpfung eingehen. Ich möchte Ihnen meine politische Sicht auf Chancen und Risiken von Sozialfirmen darlegen und über die Idee einer Allgemeinen Erwerbsversicherung erzählen. Abschliessend werde ich Massnahmen skizzieren, um Armut präventiv zu bekämpfen.
Einleitung
«Es geht immer», sagt sie, «aber es ist anstrengend.» Und es dürfe nichts passieren. «Wenn einer von uns krank wird, bricht das ganze System zusammen. Wir sind nicht versichert, haben keine Altersvorsorge. Nichts.»
«Wir möchten den Kindern ein gutes Leben bieten», sagt sie, «aber es fehlt uns an allem.» Auch sie ist auf Arbeitssuche. «Ich würde alles machen, putzen, kochen, pflegen, Fabrikarbeit.»
„Wenn man nichts mehr erlebt, hat man nichts mehr zu erzählen.“ Wer kein Geld habe, habe auch Mühe, neue Kontakte zu knüpfen. (WOZ, 48/2010) und Beobachter (8/2012).
Dies sind drei kurze Erzählungen von armutsbetroffenen Menschen in der Schweiz. Sie erzählen von Unsicherheit, Überlebenskampf und Willenskraft. Armut geht häufig, aber längst nicht immer, mit Arbeitslosigkeit einher. Viele Armutsbetroffene arbeiten in prekären Verhältnissen. Armut bedeutet Verzicht, weil das Geld immer und für alles fehlt; Existenz- und Zukunftsangst, weil man die Rechnungen nicht bezahlen kann; Einsamkeit und soziale Ausgrenzung, weil man an nichts teilnehmen kann, das kostet. Armut nagt am Selbstwertgefühl und macht häufig krank. Der permanente Druck führt zu gesundheitlichen Problemen wie Schlafstörungen oder auch Suchtverhalten. Armut hat dabei viele Gesichter. Gemäss Caritas leben in der Schweiz 580’000 armutsbetroffene Menschen, davon sind ein grosser Teil Kinder. Bis zu 1,1 Millionen Menschen sind schweizweit gefährdet, in die Armut abzurutschen. Als arm gelten Eltern mit zwei Kindern, die weniger als 4600 Franken pro Monat haben, Alleinerziehende mit zwei Kindern, die weniger als 3800 Franken monatlich zur Verfügung haben oder eine Einzelperson, die weniger als 2200 Franken pro Monat verdient. Schweizweit ist fast jede fünfte Person nicht in der Lage, eine unerwartete Rechnung von 2000 Franken zu bezahlen, zum Beispiel für eine Zahnbehandlung oder eine neue Brille. Viele Armutsbetroffene hätten Anspruch auf Sozialhilfe, beziehen aber keine. Das sind erschreckende Zahlen, vor allem wenn man bedenkt, dass die Schweiz eines der reichsten Länder der Welt ist. Doch der Reichtum ist sehr ungleich verteilt.
Vermögensverteilung
Der Armut steht auch ein immenser Reichtum gegenüber, der jedoch zunehmend ungleicher verteilt ist. Das reichste Prozent besitzt heute rund 40 Prozent des Vermögens. Die obersten 10 Prozent haben zusammen ¾ des Vermögens. Während es schweizweit 330’000 Millionäre gibt, sind beinahe gleich viele Menschen auf Sozialhilfe angewiesen. Diese ungleiche Entwicklung stellt eine gesellschaftspolitische Herausforderung dar. Der Sozialwissenschafter Carlos Knöpfel bringt es auf den Punkt: „Wir haben in der Schweiz 330’000 Millionäre und 290’000 Sozialhilfebezüger. Was wäre, wenn jeder Millionär als Götti eines Sozialhilfebezügers auftreten würde? Dann wäre das Problem auf materieller Ebene erledigt“.
Es gibt zahlreiche Gründe, die zu Armut führen können – Arbeitslosigkeit, nicht-existenzsichernde Löhne, steigende Lebenshaltungskosten, geringe berufliche Qualifikation, mangelnde Sprachkompetenzen, gesundheitliche Probleme, hohe Flexibilitätsansprüche, die wegen Betreuungsverpflichtungen nicht erfüllt werden können oder auch vererbte Armut. Wie die Zahlen und Ursachen zeigen, ist Armut weit mehr als ein Randphänomen. Sie ist auch kein individuelle, sondern eine gesellschaftliche Herausforderung. Deshalb ist es auch eine politische Frage, wie wir als Gemeinschaft mit Menschen umgehen, deren Fähigkeiten und Arbeitsleistungen nicht mehr nachgefragt werden oder die aus verschiedenen Gründen auf externe Unterstützung angewiesen sind.
Grundsatz Armutspolitik
„Das Schweizer Volk und die Kantone (…) gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen, geben sich folgende Verfassung: (…) Art. 12: „Recht auf Hilfe in Notlagen: Wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind.“
Die Schweizer Bundesverfassung kann eine erste Antwort auf diese Frage geben. Die Armutsbekämpfung ist eng mit dem System der sozialen Sicherheit verknüpft. Im 20. Jahrhundert bildete sich ein Netz aus Versicherungen und Institutionen, welche die soziale Sicherheit der Menschen in der Schweiz gewährleisten sollte. Dazu gehören neben der AHV, IV, Mutterschaftsversicherung, Krankenversicherung auch die Sozialhilfe. Seit es die Sozialversicherungen gibt, sind sie immer wieder Gegenstand von politischen Diskussionen. In den vergangenen zwanzig Jahren haben in der Arbeitsmarktpolitik und in der Sozialpolitik grosse Veränderungen stattgefunden. So wurden ab den frühen 1990er Jahren insbesondere Arbeitsplätze im Niedriglohn-Bereich gestrichen oder ausgelagert. Davon waren vor allem ungelernte und schlecht ausgebildete Arbeitnehmende betroffen. Die Schweiz betreibt gegenwärtig eine Standortpolitik, die darauf abzielt, Firmen anzuziehen, die hochqualifizierte Arbeitskräfte brauchen. Für viele Menschen, insbesondere für leistungsschwächere oder solche mit geringer beruflicher Qualifikation, ist die Teilnahme am Arbeitsmarkt erschwert, weil ihre Arbeitskraft nicht nachgefragt wird und Arbeitsplätze ausgelagert werden. So haben auch prekäre Arbeitsbedingungen wie unfreiwillige Teilzeitarbeit, Temporärjobs, Arbeit auf Abruf zugenommen. Immer mehr Menschen sind entweder ganz vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen oder können von ihrem Lohn nicht leben und sind auf externe Unterstützung angewiesen. Gleichzeitig erfährt die Sozialpolitik sowohl europaweit wie auch in der Schweiz seit den 90er Jahren einen Wandel, der unter dem Stichwort „Aktivierungspolitik“ respektive „Arbeit statt Fürsorge“ und „Workfare“ diskutiert wird.
Entwicklung in der Sozialpolitik
„alles in seiner Kraft Stehende tun [muss], um die Notlagen zu lindern oder zu beheben. Von unterstützten Personen wird ein aktiver Beitrag zu ihrer beruflichen und sozialen Integration erwartet.“ (SKOS 2005: A.5-3)
„Du musst dich anstrengen, dann kommt das schon. (…) Es hat strukturelle Gründe, dass so viele Menschen Mühe haben, ihre Existenz im Arbeitsmarkt zu sichern. Es ist nicht die Schuld des Einzelnen. Das ist im Kern meine Kritik am Ganzen.“ (Tageswoche 24.07.14)
Diese neue Sozialpolitik setzt die Eigenverantwortung der Betroffenen ins Zentrum und zielt auf die rasche Integration der Erwerbslosen in den Arbeitsmarkt. Sie zielt darauf, die Kosten der sozialen Wohlfahrt zu senken. Eine wesentliche Massnahme ist die Gegenleistungspflicht, die seit 2005 in der Sozialhilfe festgeschrieben ist: Die leistungsbeziehende Person ist verpflichtet, eine Leistung zu erbringen, um im Gegenzug finanzielle Unterstützung zu erhalten. Als Pflicht der unterstützten Person wird in den SKOS-Richtlinien unter anderem aufgeführt, dass sie „alles in seiner Kraft Stehende tun [muss], um die Notlagen zu lindern oder zu beheben. Von unterstützten Personen wird ein aktiver Beitrag zu ihrer beruflichen und sozialen Integration erwartet.“ (SKOS 2005: A.5-3). So werden die Leistungsbeziehenden beispielsweise dazu verpflichtet, an Integrationsmassnahmen teilzunehmen, wie die Sozialfirmen es anbieten. Diese Reform steht auch immer wieder in der Kritik. Stellvertretend sei hier der Sozialwissenschafter Carlo Knöpfel zitiert, der jahrelang bei Caritas gearbeitet hat und das Caritas Buch „Neues Handbuch Armut in der Schweiz“ veröffentlicht hat. Er kritisiert dabei, dass Armut als selbst verschuldet erscheint. Ich möchte nachfolgend am Beispiel der Sozialfirmen darauf eingehen, wie die Wiedereingliederung von Erwerbslosen zu erreichen versucht wird.
Chancen und Risiken von Sozialfirmen
Die Aktivierungspolitik zielt darauf, möglichst viele Erwerbslose wieder in den Arbeitsprozess einzugliedern. Damit gewinnen Sozialfirmen in der Bekämpfung von Armut und Arbeitslosigkeit weiter an Bedeutung. Eine wachsende Anzahl von Kantonen betrachtet Sozialfirmen als ein bevorzugter Lösungsansatz, um benachteiligte Menschen, seien dies Langzeitarbeitslose, Behinderte, Personen mit IV-Teilrente, Asylsuchende, in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Als Beispiel sei der Kanton Tessin erwähnt, der in den «Linee direttive e piano finanziario 2012–2015» (Leitlinien und Finanzplanung für die Legislaturperiode 2012–2015) der weiteren Etablierung von Sozialfirmen einen wichtigen Platz eingeräumt hat. Das Fehler eindeutiger Kriterien, was eine Sozialfirma ausmacht, und das Fehlen von rechtlichen Rahmenbedingungen erschwert jedoch die politische Diskussion dazu. Ich habe deshalb im Nationalrat mit einem Postulat einen Bericht zur Situation der Sozialfirmen gefordert. Der Bericht soll Fragen zu den unterschiedlichen Formen von Sozialfirmen, kantonalen Rechtsgrundlagen und Finanzierungsmöglichkeiten klären. Der Bundesrat wird den Bericht noch diesen Herbst veröffentlichen.
Ich möchte nun aus politischer Sicht Chancen und Gefahren von Sozialfirmen aufwerfen und politische Forderungen aufstellen, die ich in der gegenwärtigen Situation sehe:
Chancen
- Auf individueller Ebene: Mit dem Verlust einer Arbeitsstelle geht häufig auch ein Teil der sozialen Identität verloren. Sozialfirmen können den Erwerbslosen einen Teil dieser (Arbeits-)Identiät wieder zurückgeben, sie können sich wertgeschätzt und gebraucht fühlen; sie machen Arbeit, die wirklich auch gebraucht wird. Der Arbeitsalltag entlastet sie von der Einsamkeit.
- Sozialfirmen leisten dabei wichtige soziale Integration, die auch der gesamten Gesellschaft zugute kommt. Die Menschen werden weniger krank.
- Die Beschäftigten können sich ein Netzwerk aufbauen, das ihnen beruflich weiterhelfen kann. Sammeln Arbeitserfahrungen.
- Die Unterstützungsleistung von Sozialfirmen geht weit über berufliche Integration und Qualifzierung hinaus, auch Unterstützung in sozialer Hinsicht (Hilfe bei Alltagsfragen).
- Die Mitarbeitenden kennen ihre Beschäftigten gut, sind häufig näher dran als Sozialarbeiter/innen, die zu viele Klient/innen betreuuen müssen.
- Unterstützung bei der Stellensuche; Sozialfirmen übernehmen Rolle des „Vitamin-B“
Risiken
- Mit dem Angebot von Sozialfirmen werden reguläre Unternehmen noch mehr aus der Verantwortung genommen. Es profitieren reguläre Unternehmen, indem sie schwach qualifizierte Tätigkeiten an kostengünstige Sozialfirmen auslagern und so Personalkosten sparen können. Es besteht die Gefahr, dass so ein Parallelarbeitsmarkt auf dem zweiten Arbeitsmarkt entsteht und gerade Tieflohnarbeitsplätze zunehmend gestrichen und ausgelagert werden. Das führt zur paradoxen Situation, dass Erwerbslose in einem formell unfreien Rahmen teilweise dieselben Arbeiten ausführen, die sie früher als angestellte Arbeitnehmende geleistet haben. Das kann auch Druck auf die Löhne des ersten Arbeitsmarktes ausüben.
- Es besteht die „Gefahr“, dass das Ziel der Wiedereingliederung aus den Augen verloren geht und die Menschen in Sozialfirmen verharren. Die Beschäftigten gewöhnen sich an den „Arbeitsort“, suchen keine reguläre Stelle mehr.
- Die Menschen sind trotz Arbeit nach wie vor sozialhilfeabhängig, sie bleiben in der Armut. Das kann stigmatisierend wirken.
- Kritisch beurteile ich den Zwangscharakter der Aktivierungspolitik.
Politische Forderungen
- Die Schaffung einer Gesetzgebung (bzw. Rechtsform) für Sozialfirmen, wie sie in vielen europäischen Ländern bereits existiert, kann zur Klärung der Identität dieser Firmen beitragen. Insbesondere sollen Fragen diskutiert werden, die das Verhältnis zum Staat und zum regulären Arbeitsmarkt, die Arbeitsbedingungen und der Einbezug der Betroffenen zu beantworten helfen. Eine gesetzliche Grundlage könnte auch klären, wie Firmen für ihre Integrationsleistung entschädigt und unterstützt werden.
- Wie auf dem ersten Arbeitsmarkt braucht es auch auf dem zweiten Arbeitsmarkt und für Sozialfirmen Kontrollen durch die Tripartite Kommission, welche die Einhaltung von Arbeitsbedingungen überprüfen.
- Freiwilligkeit der Wiedereingliederungsmassnahmen. Staatlich subventionierte Arbeitsplätze, für die sich Erwerbslose freiwillig bewerben können. So können auch Sozialfirmen vom Zwang der Bevormundung befreit werden und haben motiviertere Beschäftigte.
- Und die Wirtschaft muss in die Pflicht genommen werden, wie dies beispielsweise bei Lehrstellen geschehen ist. Alle Firmen ab einer bestimmten Grösse, die keine leistunsgschwachen Menschen anstellen, müssen in einen Fonds einzahlen. Aus diesem Fonds werden dann Firmen (wie Sozialfirmen) unterstützt, die eben solche Arbeitsplätze anbieten.
Mit der Aktivierungspolitik und dem Kostendruck hat sich nicht nur der Druck auf die Leistungsbezügerinnen und Leistungsbezüger verstärkt. Darüber hinaus besteht auch das Problem, dass die verschiedenen Institutionen der sozialen Sicherung versuchen, Fälle an andere Institutionen abzuschieben, um Kosten zu sparen.
System der sozialen Sicherheit
Heute gibt es eine Vielfalt an Unterstützungssysteme, die bei einem Erwerbsausfall oder zu tiefem Einkommen zum Tragen kommen: Arbeitslosenversicherung, Invalidenversicherung, Krankentaggeld, Unfallversicherung, Mutterschaftsversicherung, Ergänzungsleistungen oder Sozialhilfe. Dies wird immer wieder aus verschiedenen Gründen kritisiert:
- System ist ineffektiv, da die Personen zum Teil von einer Institution an die nächste weitergereicht werden.
- Neue Risiken wie Alleinerziehende, ausgesteurte Arbeitslose, Working Poor sind nicht oder nur ungenügend gedeckt. Sie müssen Sozialhilfe beantragen.
- Je nach Grund der Erwerbslosigkeit (Unfall, Krankheit, Kündigung) werden die Erwerbslosen unterschiedlich behandelt. Das führt zu Ungleichheiten.
- Versicherungssystem ist ineffizient, da es viele Doppelspurigkeiten und Lücken gibt. Das verursacht unnötige Kosten.
- Das System baut auf überholten Gesellschaftsmodellen auf: stabile Arbeitsplätze, lineare Berufskarrieren, Vater als Alleinverdiener, Mutter Hausfrau.
- Die Kompetenzaufteilung verleitet den Bund, die Verantwortung für die Existenzsicherung auf die Kantone und Gemeinden abzuwälzen.
- Das Hin- und Her-Schieben ist eine starke Belastung für die Betroffenen
An diese Kritik knüpft die Forderung nach einer Allgemeinen Erwerbsversicherung an. Die Idee möchte ich Ihnen nun genauer vorstellen.
Die Allgemeine Erwerbsversicherung (AEV)
Der AEV liegt die Idee zugrunde, dass allen Menschen, die nicht erwerbstätig sein können, ein Auskommen in Würde ermöglicht werden soll und sie versichert sind. Die Ursache der Erwerbslosigkeit soll keine Rolle mehr spielen. Dafür sollen alle auf temporären Erwerbsausfall ausgerichtete Versicherungen in einer einzigen allgemeinen Erwerbsvesicherung zusammengefasst werden. Die AEV soll eine obligatorische Versicherung sein, die alle Erwerbsrisiken versichert und alle Personen im erwerbsfähigen Alter (auch Selbstständigerwerbende) umfasst. Bei einem vorübergehenden Erwerbsausfall soll die AEV Taggelder in der Höhe von achtzig Prozent des letzten Lohnes ausbezahlen, bei solchen ohne Pflichten für Kinder siebzig Prozent. Die Bezugsfrist ist zeitlich unbeschränkt, bei dauerhaftem Ausfall gibt es Renten. Sozialhilfe kommt nur dann zum Einsatz, wenn das Existenzminimum durch Taggelder und Ergänzungsleistungen nicht gedeckt ist. Gleichzeitigi sollen die Individuen verpflichtet werden, gesellschaftlich nützliche Arbeit zu leisten, damit sich die Gesellschaft entwickeln kann, aber es soll sich um anständige Arbeit handeln.
Vorteile
- Die einzelnen Versicherungszweige werden nicht mehr gegeneinander ausgespielt.
- Mit der Zusammenführung kann der administrative Aufwand reduziert werden (um 20%).
- So werden auch Familienergänzungsleistungen eingeführt, die schon lange gefordert werden. Damit kann das Armutsrisiko für Kinder minimiert werden.
- Die AEV wirkt dem Druck auf die sozialen Sicherungssysteme entgegen. Wirkt auch der Entsolidarisierung entgegen.
- Die Sozialhilfe würde ins System integriert und aufgrund der Ausweitung der obligatorischen Erwerbssicherung praktisch überflüssig.
Kosten und Finanzierung
- Staatliche Mehrkosten für Leistungsverbesserungen: 2,66Mrd, Einsparungen 1,83Mrd (Effizienzgewinn, Entlastung Sozialhilfe). Ausgaben steigen um 830Mio.
- Finanzierung mit Lohnprozenten: einheitlich 3,71% für Beschäftigte und Arbeitgeber. Beiträge der Beschäftigten sinken leicht.
- Die Abgabe soll auf alle Lohnanteile erfolgen. Das bringt 900 Mio Mehreinnahmen.
Stand der politischen Diskussion
- Es gab einen Vorstoss im Nationalrat im Jahr 2010. Der Bundesrat hat einen Bericht dazu verfasst. Er kam zum Schluss, dass das Sozialversicherungssystem seine Ziele für den allergrössten Teil der Personen im Erwerbsalter erreicht. Er lehnt die Vorschläge für umfassende Reformen ab. Bei Gesetzesreformen soll jedoch geprüft werden, wie Leistungssysteme vereinfacht, einander angenähert oder besser koordiniert werden können. Als Beispiel nennt er Massnahmen in Bezug auf die interinstitutionelle Zusammenarbeit.
- Aktuell ist die Idee einer Allgemeine Erwerbsversicherung auch wieder als Gegenvorschlag zur Volksinitiative „Bedingungsloses Grundeinkommen“ im Parlament diskutiert worden.
Sowohl die Allgemeine Erwerbsversicherung wie auch die Sozialfirmen siedeln sich dort an, wo Armut bereits existiert oder droht. Zur Armutsbekämpfung gehören aber auch Strategien, die dafür sorgen, dass Armut gar nicht erst auftreten kann. Ich werde zum Abschluss nachfolgend ein paar solcher Strategien skizzieren.
Armutsprävention
- Bezahlbaren Wohnraum: Wohnen und Armut sind eng verbunden. Einerseits wird das Wohnen zur Armutsfalle. So liegt der Mietanteil am Haushaltsbudget in armutsgefährdeten Haushalten bei durchschnittlich 40% – weit über dem Soll von max. 30%. Andererseits fördert Armut prekäre Wohnverhältnisse (enge Platzverhältnisse, zu hohe Mieten, schlechte Wohnqualität). Zugleich wurde in letzter Zeit in einigen Gemeinden aktiv günstiger Wohnraum vernichtet, um Armutsbetroffene fernzuhalten. Es braucht mehr preisgünstigen Wohnraum.
- Chancengleichheit in der Bildung: Ein grosser Teil der Sozialhilfebezüger/innen sind Kinder und Jugendliche in armutsbetroffenen Familien. Es muss ein wichtiges Ziel sein, die Vererbung der Armut zu unterbrechen. Tagesstrukturen in Schulen mit Hausaufgabenbetreuung und Hortangeboten sowie Frühförderung leisten einen wichtigen Beitrag dazu. Dazu gehört auch der Übergang zur Berufsbildung. Es gibt gute regioanle Projekte, wie zB Stipendien statt Sozialhilfe, das seit einigen Jahren im Kanton Waadt läuft. Dazu wurde das Stipendienwesen mit der Sozialhilfe harmonisiert, damit vom Übertritt von der Sozialhilfe in das Stipendienwesen keine Schwelleneffekte entstehen. Ziel ist es, dass zumindest alle unter 25 Jahren eine Ausbildung erhalten.
- anständige Löhne: Viele Armutsbetroffene haben eine Arbeitsstelle, aber sie verdienen zu wenig, um mit dem Einkommen sich und die Familie über die Runden zu bringen. Mit existenzsichernden Löhne und Arbeitsbedingungen wären viele Menschen nicht von Sozialhilfe abhängig.
Fazit: Gemeinsam gegen Armut
Armut ist nicht das Problem von einzelnen Personen, sondern eine gesellschaftliche Herausforderung. Heute dominiert in der Politik die Stimmung, dass anstatt Armut, die Armen selber bekämpft werden. Das macht Armutsbetroffenen zu schaffen – täglich zu hören, man sei faul und hätte eine Anspruchsmentalität, ist weder selbstwertfördernd noch motivierend.
Es braucht wieder eine Umkehr: wir müssen gemeinsam Armut bekämpfen und den Menschen eine Perspektive bieten. Die Frage ist, wie wir mit Menschen umgehen, für die eine Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt kein realistisches Ziel mehr darstellt. Es braucht neue Quellen der individuellen und sozialen Anerkennung und Wertschätzung. Die grundlegenden Forderungen von armutsbetroffenen Menschen sind Partizipation, Respekt und Wertschätzung ihnen gegenüber. Mehr noch als materielle Güter, sagt Nobelpreisträger Amartya Sen, fehlen Armutsbetroffenen Verwirklichungschancen. Die Fähigkeiten und Freiheiten, ein Leben nach eigenen Lebensplänen zu führen. Zum Beispiel frei zu sein von vermeidbaren Krankheiten, am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können oder sich ohne Scham in der Öffentlichkeit zu zeigen. Das ist eine gesellschaftliche Verantwortung. Danke, dass Sie mit Ihrer Arbeit einen wichtigen Beitrag dazu leisten.
